Weniger ist mehr

 

Für unseren aktuellen Blogartikel habe ich das Thema „Weniger ist mehr“ gewählt.

Vor dem Hintergrund einer drohenden (oder möglicherweise bereits vorhandenen) Versorgungskrise bedingt durch die Corona-Pandemie gewinnt diese Thematik noch viel mehr an Inhalt und Gewicht.

Unser aller Gesundheitswesen wird in den nächsten Jahren veränderte (und verminderte) Rahmenbedingungen vorfinden. Eine verminderte Grundlohnsumme wird zu verminderten Krankenversicherungsbeiträgen führen und in selbem Maße wird auch weniger Geld für Gesundheitsleistungen zur Verfügung stehen.

Drängender als bisher wird sich also die Frage stellen, welche medizinischen Leistungen sind verzichtbar, um den tatsächlichen Bedarf zu decken und um die vorhandenen Ressourcen richtig zu platzieren? Hierbei geht es gar nicht um Rationierung im engeren Sinne, sondern vielmehr um Einsicht in ein mögliches Zuviel an Leistungen, die durch keine Evidenz gestützt sind.

 

Klug entscheiden („choosing wisely“)

 

Bereits 2011 hat das American Board of Internal Medicine eine Inititative ins Leben gerufen, welche unter der Bezeichnung „choosing wisely“ inzwischen mehr als 150 Empfehlungen aus allen internistischen Schwerpunkten ausgesprochen hat, auf diagnostische und therapeutische Maßnahmen gezielt zu verzichten, um dadurch den Nutzen für die Patienten zu erhöhen.

„Less is more“ gibt es also bereits seit mehr als zehn Jahren und wurde in der Zwischenzeit auch von anderen internistischen Fachgesellschaften aufgegriffen und übernommen.

Ich möchte Ihnen nun im folgenden einige Beispiele vorstellen.

 

„Weniger ist mehr“ …Antibiotikatherapie von Harnwegsinfektionen

 

Harnwegsinfektionen zählen zu den häufigsten ambulanten und stationären Infektionen. Hiervon sind positive Urinkulturen ohne klinische Zeichen eines Harnwegsinfektes abzugrenzen (asymptomatische Bakteriurien – kurz ASB). Der Anteil dieser ASB ist bei jungen Frauen etwa 5%, bei Bewohnerinnenn von Pflegeeinrichtungen bereits 50%. Es besteht in den nationalen und internationalen Leitlinien ein starker Konsens, dass eine ASB (außer bei Schwangeren und vor urologischen Eingriffen) nicht antibiotisch behandelt werden sollte.

Eine 2019 veröffentlichte Studie zeigte jedoch, dass in über 80% der Fälle einer ASB eine  antibiotische Therapie erfolgte.

(Petty et al. Risk factors and outcomes associated with treatment of asymptomatic bacteriuria in hospitalized patients. JAMA Intern Med. https://doi.org/10.1001/jamainternmed.2019.2871

Der Einsatz von Antibiotika im Falle einer ASB bringt jedoch keinen Vorteil für den/die Patienten, weder in Bezug auf die Entwicklung von Komplikationen, noch auf den Endpunkt Tod, nicht einmal die Zahl der symptomatischen Harnwegsinfektionen ließen sich damit reduzieren.

Die vermehrte mikrobielle Resistenzentwicklung, das Risiko einer C. difficile Infektion sind potentielle Schäden, die die PatientInnen erleiden können. Jede einzelne inadäquate Antibiotikatherapie stellt außerdem auch eine unnötige finanzielle Belastung des Gesundheitssystems dar.

Die Auswahl des richtigen Antibiotikums im Falle einer adäquaten Therapieindikation ist eine weitere wichtige Maßnahme. Aufgrund wirklich guter Wirksamkeit und eines günstigen Nebenwirkungsprofils sind Beta-Laktam Antibiotika häufig erste Wahl. Erst eine „Penicillinallergie“ führt oft zur Behandlung mit alternativen Antibiotika, welche ein deutlich ungünstigeres Nebenwirkungsprofil haben. Es ist hier von besonderer Bedeutung, eine echte allergische Reaktion (welche die Anwendung dann auch tatsächlich verbietet) von einfachen Unverträglichkeitsreaktionen zu unterscheiden, welche eine unproblematische Anwendung erlauben. Eine exakte Anamnese ist hier essentiell.

 

„Weniger ist mehr“…psychotrope Substanzen bei Senioren

 

Die Verordnungsdichte von psychotropen Substanzen bei Senioren ist hoch. Es besteht ein bekannter Zusammenhang in der Verordnungsdichte von diesen Substanzen zu kognitiven Einschränkungen und Demenz (die wiederum ein häufige Gründe für die Versorgung von Senioren in Pflegeeinrichtungen sind). Eine Vielzahl von Studien belegt, dass eine psychotrope Multimedikation mit negativen Folgen für die Patienten einhergeht (reduzierte Alltagsaktivitäten, Einschränkung der Mobilität, erhöhte Sturzgefahr zB). Die jüngst publizierte COSMOS-Studie, widmet sich genau dieser Frage, ob und wie die psychotrope Medikation von Senioren reduziert werden kann, ohne vermehrt psychiatrische Auffälligkeiten zu provozieren.

Die erforschte notwendige „Intervention“ bestand in Kommunikation, Pflegeplanung, Organisation von Alltagsaktivitäten etc. – die Studie zeigte, dass die Reduktion der Psychopharmaka mit einer Verbesserung von Alltagsaktivität und Selbstversorgungsfähigkeit einhergeht. Die Schwierigkeit ist hier sicherlich, wie man Mulitmedikation vermeiden oder zumindest begrenzen kann, ohne dem Patienten wirklich notwendige Medikamente vorzuenthalten. Hier müssen akutmedizinische Notwendigkeiten ebenso berücksichtigt werden, wie die kritische und regelhafte Überprüfung von chronischen Verordnungen.

 

„Weniger ist mehr“ … medikamentöse Therapie von erhöhten Harnsäurewerten

 

Erhöhte Serum-Harnsäurewerte wurden immer wieder mit unterschiedlichen klinischen Endpunkten (Nierenversagen, Herzinfarkte, Schlaganfall etc) in Verbindung gebracht. Die Ergebnisse diverser Metaanalysen waren aber nicht einheitlich.

Inwiefern profitieren also Patienten mit erhöhten Harnsäurewerten von einer medikamentösen Harnsäuresenkung? Kann man damit eine Verschlechterung der Nierenfunktion oder Herzinfarkte verhindern?

Zu diesem Thema wurden 2017 insgesamt 4608 Veröffentlichungen ausgewertet. Zwischen erhöhten Harnsäurewerten  und kardiovaskulären Erkrankungen oder auch Nierenerkrankungen konnte kein überzeugender Zusammenhang gefunden werden; ebenso für die Themen Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus und erhöhte Sterblichkeit konnte kein signifikanter Zusammenhang hergestellt werden.

Überzeugende Evidenz zeigte sich nur für den Zusammenhang von erhöhten Harnsäurewerten und Gichtarthritis und. Nephrolithiasis (=Nierensteine).

Die Verträglichkeit einer Therapie mit harnsäuresenkenden Substanzen ist gut, die Kosten übersichtlich, dennoch soll sich die Therapieentscheidung streng an den Indikationen Gicht und Nephrolithiasis orientieren. Eine asymptomatische Harnsäureerhöhung soll nicht präventiv medikamentös behandelt werden.

 

Zusammenfassung und Conclusio:

Diese Liste lässt sich noch lange um viele Beispiele erweitern (Behandlung der subklinischen Hypothyreose des Älteren, interventionelle Therapie von nicht-relevanten Koronarstenosen zB) — ich möchte Ihre Geduld aber nicht mit den mehr als 150 Empfehlungen über Gebühr strapazieren.

In der ärztlichen Praxis müssen täglich zahlreiche Diagnose- und Therapieentscheidungen getroffen werden. Viele dieser Entscheidungen basieren auf Erfahrung, Routine und weil es doch immer schon so gemacht wurde. Davon abzuweichen ist mühevoll. Einige gut gemeinte Leistungen bringen – kritisch wissenschaftlich betrachtet – keinen Zusatznutzen hinsichtlich medizinischer Information oder für die Prognose des Patienten, manche davon sind potentiell sogar schädlich.

Es mag anfänglich ein Mehraufwand sein, den Patienten zu erklären, warum weniger oftmals mehr ist, und dass der Beweggrund keinesfalls ein wirtschaftlicher ist, langfristig wird aber genau dieses Vorgehen das Vertrauen des Patienten in die Kompetenz des vertrauten Arztes stärken.

Literatur beim Verfasser

 

Wir begleiten unsere PatientInnen auf Ihrem Weg zu mehr Vitalität und Gesundheit. Dabei sehen wir uns als Ärzte und Coaches – gemäß dem Motto: Weniger ist mehr!

Herzlichst,


Dr. med. univ. Werner Kühnel MHBA
Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie, Sportmedizin und Allgemeinmedizin, Ernährungsmediziner

+43 3463 32 575
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